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zum Urteil des Zweiten Senats vom 25. August 2005 - 2 BvE 4/05 - - 2 BvE 7/05 -

Nach meiner Überzeugung sind die Anträge begründet.

Den vom Bundeskanzler vorgetragenen Gründen lässt sich seine politische Handlungsunfähigkeit und damit eine materielle Auflösungslage nicht entnehmen, die den Antrag nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG und die vorzeitige Auflösung des Deutschen Bundestags rechtfertigen könnte (1.). Das Grundgesetz kennt nur ein konstruktives Misstrauensvotum des Deutschen Bundestags gegen den Bundeskanzler, nicht jedoch ein "konstruiertes Misstrauen" des Kanzlers gegenüber dem Parlament (2.). Die von der Senatsmehrheit gefundene Auslegung und Anwendung des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG schwächt die Stellung des Deutschen Bundestags, beeinträchtigt das freie Mandat der Abgeordneten und birgt das Risiko einer Destabilisierung des politischen Systems in sich (3.).

1. Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage am 1. Juli 2005 im Deutschen Bundestag damit begründet, durch die vorangegangenen Wahlniederlagen sei deutlich geworden, "dass es die sichtbar gewordenen Kräfteverhältnisse ohne eine neue Legitimation durch den Souverän, das deutsche Volk, nicht erlauben, meine Politik erfolgreich fortzusetzen". Zur Begründung verwies er auf Drohungen von SPD-Mitgliedern, bei Fortführung der Reformpolitik der "Agenda 2010" aus der Partei auszutreten. Zudem hätten vermehrt Mitglieder der Koalitionsfraktionen mit abweichendem Stimmverhalten oder mit Austritt gedroht. Schließlich könne die Bundesratsmehrheit nur durch ein klares Wählervotum zu einem Überdenken ihrer "Blockadehaltung" gebracht werden.

Diese Gründe belegen keine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag, die allein eine "unechte" (auflösungsgerichtete) Vertrauensfrage nach den zutreffenden Maßstäben der Entscheidung des Senats vom 16. Februar 1983 (BVerfGE 62, 1) rechtfertigen könnte. Die Auffassung der Senatsmehrheit verabschiedet diese Maßstäbe ohne Not und ohne dies kenntlich zu machen.

Sowohl die vage Aussicht darauf, dass die Mehrheit im Bundesrat ihre Haltung ändert, als auch das drohende oder tatsächliche Ausscheiden von SPD-Mitgliedern aus der Partei können eine materielle Auflösungslage nicht bewirken, denn sie stehen in keinem hinreichenden Bezug zum parlamentarischen Geschehen im Deutschen Bundestag. Verfassungsrechtlich allein relevant bleibt das Argument, eine stetige und verlässliche Mehrheit für seine Regierungspolitik sei angesichts der Drohung abweichenden Stimmverhaltens verschiedener Abgeordneter nicht mehr gegeben. Nur hierauf hat sich auch der Bundespräsident in seiner Fernsehansprache vom 21. Juli 2005 bezogen.

Für diese letztgenannte Einschätzung stehen allerdings keine sichtbar gewordenen oder nachprüfbaren Anhaltspunkte zur Verfügung. Die vom Kanzler geleitete Bundesregierung hat in der zurückliegenden Legislaturperiode keine einzige Abstimmung verloren, in der die Kanzlermehrheit erforderlich war. Auch die bislang ins Gesetzgebungsverfahren eingebrachten Gesetzentwürfe zur Umsetzung der "Agenda 2010" waren im Bundestag erfolgreich. Dabei haben auch die parteiinternen Kritiker ihre Bedenken zurückgestellt und (bei einer Enthaltung) für die jeweiligen Regierungsvorlagen gestimmt. Betrachtet man also das zurückliegende Geschehen im 15. Deutschen Bundestag, so gibt es für eine fehlende parlamentarische Unterstützung des Kanzlers oder seiner Regierungspolitik keine Anhaltspunkte.

Auch wenn man berücksichtigt, dass der Bundeskanzler bereits im Voraus den realen Kräfteverhältnissen Rechnung tragen muss und Gesetzentwürfe, für die eine Mehrheit im Regierungslager nicht gesichert ist, daher nicht in den Bundestag eingebracht werden konnten, ergibt sich kein anderes Bild. Denn konkrete Anhaltspunkte für das Fehlen einer verlässlichen Basis zur Umsetzung parlamentarischer Vorhaben der Bundesregierung sind nicht ersichtlich. Weder hat der Bundeskanzler solche benannt noch ist erkennbar, welche konkreten Gesetzgebungsprojekte angesichts der Abweichungsdrohungen zurückstehen mussten. Eine aktuelle Krisenlage, eine Lage der Handlungsunfähigkeit des Bundeskanzlers kann damit den Angaben des Kanzlers und den bekannt gewordenen objektiven Umständen nicht entnommen werden.

Dies gilt auch für die vom Kanzler in den Vordergrund gerückte Umsetzung der "Agenda 2010". Zum einen sind die hierfür erforderlichen Gesetze bereits weitgehend verabschiedet worden und haben dabei stets die Unterstützung der Koalitionsfraktionen gefunden. Zum anderen sind auch die noch ausstehenden "20 Maßnahmen zur Fortsetzung der Agenda 2010" in der SPD-Fraktion einhellig beschlossen worden. Die Annahme, für eine Fortführung dieser Reformprojekte fehle es an einer ausreichenden parlamentarischen Unterstützung, entbehrt daher einer nachvollziehbaren Tatsachengrundlage. Allein der Umstand, dass einige Abgeordnete von SPD und Bündnis 90/Die Grünen zwar dem Gesetzentwurf der Hartz-IV-Regelungen, nicht aber den Änderungsvorschlägen des Vermittlungsausschusses zugestimmt hatten, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Denn einerseits standen mit dem Vermittlungsergebnis gerade nicht die Reformvorstellungen des Kanzlers zur Abstimmung; andererseits war bei dieser Abstimmung die Bundestagsmehrheit durch die angekündigte Zustimmung der Opposition gesichert. Von einer Beeinträchtigung der Handlungsfähigkeit der Regierung kann daher auch insoweit nicht die Rede sein. Anzeichen dafür, dass dies künftig anders sein sollte, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Vielmehr wird auch im "Wahlmanifest" der SPD vom 4. Juli 2005 bekräftigt, dass die "Agenda 2010" konsequent umgesetzt werde. Kritische oder drohende Stimmen von SPD-Abgeordneten hierzu sind in der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden.

Im Übrigen kann die Handlungsfähigkeit einer Regierung nicht bereits dann in Abrede gestellt werden, wenn ein Kanzler einzelne Reformvorschläge nicht mehr durchzusetzen vermag. Denn dies ist - gewollte und zwingende - Folge des vom Grundgesetz konstituierten parlamentarischen Regierungssystems. Es spricht dem Bundeskanzler zwar eine Richtlinienkompetenz zu (die sich ohnehin nur auf das Kabinett bezieht), geht aber grundlegend vom Bild des freien Abgeordneten aus, der nicht in allen Einzelfragen monolithisch mit seiner Partei oder "seinem" Kanzler auftreten muss. Wollte man dies anders sehen, so bliebe von der in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vorgesehenen Freiheit des Abgeordneten nicht viel übrig. Um aus dem von der Mehrheit abweichenden Stimmverhalten einzelner Abgeordneter eine Lähmung der Handlungsfähigkeit der Regierung ablesen zu können, muss sich dieses daher jedenfalls auf zentrale, gerade im Kernbereich der Richtlinienkompetenz des Kanzlers liegende Themen beziehen.

Insgesamt erweist sich das Vorbringen des Bundeskanzlers daher nicht als ausreichend, um die behauptete fehlende parlamentarische Unterstützung begründen zu können. Das objektiv nachvollziehbare Geschehen im Deutschen Bundestag und in den Fraktionen der Regierungsparteien begründet vielmehr im Gegenteil eine Vermutung dafür, dass der Kanzler bislang auf eine Unterstützung der Parlamentsmehrheit bauen konnte und mit dieser auch in Zukunft rechnen kann. Dieser Anschein wird durch die Begleitumstände der Vertrauensfrage weiter gestützt. Denn nach Auskunft der Abgeordneten Hoffmann und Schulz - der weder vom Bundesinnenminister noch vom Bevollmächtigten der Bundesregierung substanziiert entgegengetreten wurde - ist die für den 30. Juni 2005 angesetzte Beschlussfassung über den Entwurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes trotz gesicherter Mehrheit kurzfristig abgesetzt worden, weil die Aktualisierung der Kanzlermehrheit am Vortage der Vertrauensfrage "schlecht aussehe" und man die Abstimmung daher jetzt "nicht gebrauchen" könne. Bemerkenswert erscheint schließlich auch, dass die Mitglieder der SPD-Fraktion zur Stimmenthaltung bei der Abstimmung am 1. Juli 2005 nur dadurch bewogen werden konnten, dass ihr Parteivorsitzender ihnen die Stimmenthaltung als Vertrauensbekundung für den Kanzler andiente. Fehlende Mehrheiten sehen anders aus; sie bedürfen keines "konstruierten Misstrauens".

2. Würde man dem Bundeskanzler unter Hinweis auf seine Einschätzungsprärogative zugestehen, auch in Situationen wie der vorliegenden die Vertrauensfrage zu stellen, so ebnete man einen Weg zur Parlamentsauflösung, bei dem nur die Einhaltung formaler Voraussetzungen gefordert ist, materielle Kriterien aber faktisch aufgegeben sind. Denn die inhaltliche Kontrolle der Entscheidung des Bundeskanzlers ist dann nicht mehr möglich. Dieser dem Selbstauflösungsrecht sehr nahe kommende Schritt - den unsere Verfassung aus guten Gründen nicht kennt - untergräbt die vom Grundgesetz angestrebte Stabilität der Volksvertretung und des politischen Systems und beeinträchtigt das freie Abgeordnetenmandat. Er eröffnet Manipulations- und Missbrauchsmöglichkeiten und muss einer expliziten Textänderung des Verfassungsdokuments vorbehalten bleiben.

Ein dergestalt weiter Entscheidungsspielraum des Bundeskanzlers steht auch in Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung. Denn er bedeutet de facto die Preisgabe der materiellen Voraussetzungen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Leitentscheidung vom 16. Februar 1983 als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG festgestellt hat (vgl.BVerfGE 62, 1 <6. Leitsatz> ). Das Gericht hat aus einer entstehungsgeschichtlichen, systematischen und teleologischen Interpretation der einschlägigen Verfassungsnormen gefolgert, dass die Vertrauensfrage von einem Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestags anstrebt, nur angestrengt werden darf, wenn eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag besteht. Voraussetzung ist, dass die politischen Kräfteverhältnisse im Bundestag die Handlungsfähigkeit des Kanzlers so beeinträchtigen oder lähmen, dass er eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit der Abgeordneten getragene Politik nicht mehr sinnvoll zu verfolgen vermag. Wie und auf welcher Grundlage sollen aber der Bundespräsident und das Verfassungsgericht eine entsprechende Einschätzung beanstanden können, wenn diese allein an der Lagebeurteilung des Kanzlers zu messen ist?

Soweit die Senatsmehrheit auf eine vermeintlich "verdeckte Minderheitssituation" des Bundeskanzlers verweist, in der die politische Unterstützung der parlamentarischen Mehrheit nur "äußerlich" geleistet werde, liegt dem ein unzutreffendes Verständnis des parlamentarischen Vertrauens zugrunde. Vertrauen bedeutet im parlamentarischen Regierungssystem die Bereitschaft des Abgeordneten, Person und Regierungsprogramm des Bundeskanzlers parlamentarisch zu unterstützen (vgl.BVerfGE 62, 1 <37> ). Unterstützung des Kanzlers bedeutet, dass der Abgeordnete dort, wo es darauf ankommt, wo über parlamentarische Vorhaben entschieden wird, bei den Abstimmungen im Deutschen Bundestag also, zum Kanzler und seinen Vorhaben steht. Ob der Abgeordnete dem Kanzler auch persönlich vertraut, ob er ihm aus Überzeugung oder nur zähneknirschend und unter persönlichen Vorbehalten folgt, spielt dabei keine Rolle. Inhaltlicher Dissens auch bei geschlossenem Handeln einer parlamentarischen Gruppe gehört zum Wesen der innerparteilichen Demokratie und kann in einer demokratischen Volkspartei, die stets unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen aufnehmen muss, nicht hinweggedacht werden. Sie ist Teil des diskursiv angelegten parlamentarischen Regierungssystems und beeinträchtigt die Handlungsfähigkeit der Regierung jedenfalls solange nicht, wie sichergestellt bleibt, dass die Regierung bei den Abstimmungen über ihre zentralen Reformpläne auf eine parlamentarische Mehrheit bauen kann. Um dieses gemeinsame Handeln gegebenenfalls trotz innerparteilicher Widerstände gewährleisten zu können, hat das Grundgesetz dem Kanzler das Instrument der Vertrauensfrage an die Hand gegeben. Bezugspunkt bleibt damit aber stets das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten. Eine weitergehende "Unterordnung" oder "Gleichschaltung" mit den Vorstellungen des Kanzlers ist nicht erforderlich und im ausbalancierten System des Grundgesetzes mit der Figur des freien Abgeordneten auch nicht vorgesehen. Innere Vorbehalte oder Einstellungen der Abgeordneten sind damit ohne Belang.

Systematisch betrachtet ist die Vertrauensfrage daher auf den Erhalt der Regierungsfähigkeit gerichtet. Sie ist Instrument und Ausdruck des parlamentarischen Regierungssystems, in dem das Schicksal des Kanzlers in die Hände der Mehrheit der Parlamentsabgeordneten gelegt ist. Die Bundestagsauflösung nach gescheiterter Vertrauensfrage stellt sich als Konsequenz der Tatsache dar, dass ein im Amt befindlicher Kanzler nicht mehr die ausreichende parlamentarische Unterstützung für seine Person oder sein Regierungsprogramm findet. Sie bereinigt eine politische Lage der Instabilität zwischen Bundeskanzler und Bundestag. Dem Bundeskanzler soll nicht zugemutet werden, mit den bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren, wenn seine Handlungsfähigkeit so beeinträchtigt oder gelähmt ist, dass er die von ihm verfolgte Politik nicht mehr sinnvoll zu verfolgen vermag. Ausschlaggebend hierfür dürfen jedoch nicht besondere Schwierigkeiten einer sich stellenden Aufgabe sein; entscheidend ist vielmehr, ob der Bundeskanzler davon ausgehen darf, dass eine dauerhafte und stabile parlamentarische Mehrheit nicht mehr zustande gebracht werden kann (vgl.BVerfGE 62, 1 <42 f.>).

In der Situation der Jahreswende 1982/83 gab es für diese Annahme objektive Anhaltspunkte, die sich aus den Richtungskämpfen innerhalb der FDP-Fraktion in Folge des beschlossenen Regierungswechsels ergaben und in den Austritten von Bundestagsabgeordneten ihren sichtbaren Niederschlag fanden. Die Zerreißprobe, in der sich die FDP nach dem Zerbrechen der sozial-liberalen Koalition befand, kann mit den heutigen Gegebenheiten im Deutschen Bundestag nicht verglichen werden. Angesichts der seinerzeitig hauchdünnen Abstimmungen im Bundesvorstand, den Protestbekundungen ganzer Landesverbände, dem offenen Widerstand prominenter Funktionsträger und dem Austritt namhafter Parteimitglieder - unter denen sich insbesondere auch drei Abgeordnete des Deutschen Bundestags befanden - konnte die Fraktion vom Bundeskanzler als "unsicherer Kantonist" bewertet werden. Das Bundesverfassungsgericht kam deshalb zu dem Schluss, es könne "als ausgeschlossen gelten, dass ein Versuch des Bundeskanzlers, seine Regierungsarbeit desungeachtet bis zum Ende der Wahlperiode weiterzuführen, von der Fraktion der F.D.P. mitgetragen worden wäre" (BVerfGE 62, 1 <61>).

Ähnliches kann für die gegenwärtige Situation nicht im Ansatz festgestellt werden. Austritte aus den Fraktionen der die Regierung tragenden Parteien hat es im Laufe der 15. Legislaturperiode nicht gegeben. Abgeordnete, denen in den Medien eine entsprechende Absicht unterstellt worden ist, haben dem jeweils entschieden widersprochen. Der in den Medien wiederholt als Austrittskandidat gehandelte Abgeordnete Schreiner führt die Partei im Saarland als Spitzenkandidat in einen Wahlkampf, der sich der konsequenten Fortführung der "Agenda 2010" explizit verschrieben hat. Auch die anderen parteiinternen Kritiker der vom Kanzler verfolgten Reformpolitik haben ihre grundsätzliche Loyalität zur Regierung und die Bereitschaft, die Gesetzentwürfe zur Durchsetzung der "Agenda 2010" mitzutragen, wiederholt versichert. In diametralem Gegensatz zur Lage im Dezember 1982, in der der damalige Bundeskanzler mit der unmissverständlichen Absichtserklärung der FDP-Abgeordneten konfrontiert war, die Regierung nach dem 6. März 1983 nicht mehr weiter zu unterstützen, verfügt der heutige Kanzler über eine parlamentarische Mehrheit, die ihm ihre uneingeschränkte zukünftige Unterstützung zugesichert hat. Die Abgeordnete Hoffmann hat in der mündlichen Verhandlung insoweit sogar pointiert die Frage gestellt, was sie eigentlich noch tun könne, um dem Kanzler ihr Vertrauen zu beweisen.

Sichtbare Zeichen dafür, dass der Bundeskanzler angesichts der Kräfteverhältnisse im Bundestag gelähmt sein könnte, sind damit nicht zu erkennen. Auch der Bevollmächtigte der Bundesregierung hat in der mündlichen Verhandlung trotz wiederholter Nachfragen des Gerichts keine konkreten Hinweise hierfür benannt. Dass Mehrheiten bei einem knappen Vorsprung nicht im Vorhinein sicher garantiert werden können, ist eine schlichte Selbstverständlichkeit und die Ausgangslage für viele Regierungen in Bund und Ländern gewesen. Ein Erfahrungssatz des Inhalts, dass es bei knappen Mehrheiten verstärkt zu abweichendem Verhalten kommt, besteht hingegen nicht. Vielmehr schweißt der Umstand, dass es auf jede Stimme ankommen kann, die betroffenen Fraktionen erfahrungsgemäß zusammen, weil jedem Mitglied bewusst ist, dass auch das Abweichen eines Einzelnen weit reichende Folgen haben kann. Entsprechendes kann auch für das Abstimmungsverhalten im 15. Deutschen Bundestag festgestellt werden. Die hypothetische Annahme, zukünftig könne die Handlungsfähigkeit möglicherweise beeinträchtigt sein, vermag daher an der bestehenden Funktionstüchtigkeit der Regierung nichts zu ändern. Dies wird auch bei einem Vergleich mit der Lage deutlich, in der sich Bundeskanzler Brandt im Spätsommer des Jahres 1972 befand. Denn damals griff der Kanzler erst dann zur Vertrauensfrage, als die Regierung nicht mehr über die einfache Mehrheit im Deutschen Bundestag verfügte und so nicht einmal mehr in der Lage war, den Haushaltsentwurf für das laufende Jahr zu beschließen.

3. Die Instrumentalisierung der Vertrauensfrage in der hier erfolgten Weise führt auch zu einer Veränderung des politischen Systems. Sie schwächt die Stellung des Bundestags zu Lasten quasi-plebiszitärer Elemente. Da der Bundeskanzler institutionell selbst im Falle einer erfolgreichen Wahl nicht mehr erreichen kann, als er bereits gegenwärtig besitzt, eine Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag, bleibt als Ziel nur die legitimatorische und inhaltliche Stärkung der Mehrheit und ihres Programms. Damit wird die Wahl als Plebiszit über die (Reform-)Politik der Bundesregierung eingesetzt.

Abgesehen davon, dass das Grundgesetz Plebiszite oder Sachabstimmungen zur Stärkung der vorhandenen Regierungsmehrheit nicht kennt, beeinträchtigt dieses Vorgehen auch die Repräsentativfunktion des Bundestags. Denn jedenfalls implizit liegt ihr die Vorstellung zugrunde, dass die gewählten Abgeordneten des Deutschen Bundestags nicht (mehr) geeignet sind, den Willen des Volkes abzubilden oder zu repräsentieren. Zur Rückkopplung der Regierungspolitik und zur Neubestimmung der politischen Ausrichtung müsse daher der demokratische Souverän - also das Volk selbst - direkt befragt werden. Mit der Ausgestaltung der repräsentativen Demokratie, wie sie das Grundgesetz insbesondere in Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 29 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 39 Abs. 1 zum Ausdruck bringt, ist dies nicht vereinbar.

Auch das Argument, angesichts der Bedeutung der bevorstehenden Reformschritte und ihrer Umstrittenheit müsse die Bevölkerung entscheiden, ob das Regierungsprogramm noch immer von einer Mehrheit der Menschen in Deutschland befürwortet wird, vermag nicht zu überzeugen. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit der Abgeordneten besitzt ein Mandat für vier Jahre (Art. 39 GG). Innerhalb dieses Zeitraums obliegt es ihr, die Politik zu bestimmen und die Lebensverhältnisse zu gestalten. Sie trägt hierfür die Verantwortung und hat sich den politischen Konsequenzen bei den Wahlen zum nächsten Bundestag zu stellen. Die Vorstellung, einschneidende Entscheidungen seien hiervon nicht gedeckt und bedürften einer erneuten Akklamation im Wege der Neuwahl, ist mit dem Bild der repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes nicht vereinbar. Vielmehr gehört es gerade zum Wesen einer handlungsfähigen Regierung, Entscheidungen auch über solche Fragen zu treffen, die im Zeitpunkt der Wahl noch nicht im Vordergrund standen. Dies gilt auch dann, wenn das Stimmungsbild hierzu in der Öffentlichkeit nicht mit dem Regierungskurs übereinstimmt - wie dies etwa bei der Entscheidung zur Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland der Fall war. Abstimmungen des Volkes zu entsprechenden Sachfragen kennt das Grundgesetz nicht, ebenso wenig dessen mittelbare Befassung im Wege der Neuwahl.

Den Ruf nach einer neuen Legitimation hat das Bundesverfassungsgericht im Übrigen bereits in seinem Urteil vom 16. Februar 1983 beantwortet: "Es wäre im Hinblick auf die Bewahrung des demokratischen Rechtsstaats, den das Grundgesetz verfasst hat, ein unverantwortliches Unterfangen, verfassungsmäßige Verfahren mit der Behauptung abzuwerten oder auszuhöhlen, sie erforderten daneben weitere Legitimationen. Nach dem Grundgesetz bedeutet verfassungsmäßige Legalität zugleich demokratische Legitimität. Eine andere Auffassung rührt an dem Sinn des demokratischen Grundprinzips der freien Wahl und des repräsentativen freien Mandats der Abgeordneten im Sinne des Art. 38 Abs. 1 GG" (BVerfGE 62, 1 <43>). Die vom Bundesverfassungsgericht mit Blick auf das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 67 GG) getroffenen Äußerungen gelten für den Status des Abgeordneten und sein Mandat erst recht.

Die gegenteilige Ansicht birgt überdies die Gefahr, dass künftig in einer Vielzahl von Fällen zu erneuter Bestätigung durch das Volk und damit zu Neuwahlen aufgerufen würde. Gerade in Zeiten, in denen schwerwiegende Entscheidungen zu treffen sind, bedarf das politische System aber institutioneller Stabilität. Dem entspricht auch der Leitgedanke, der Art. 68 GG und den übrigen Vorschriften zur Auflösung des Bundestags innewohnt. Danach sollen Parlament und Regierung so lange wie möglich in Amt und Funktion verbleiben, um so die Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu garantieren (vgl. dazu Sondervotum Zeidler,BVerfGE 62, 64 <66> ). Die Auflösung des Bundestags nach Art. 68 GG trotz Fortbestands einer regierungsfähigen Mehrheit verkehrt daher den Normzweck des vom Grundgesetz ausbalancierten Systems: Statt aus einer Situation der Instabilität über die Parlamentsauflösung als ultima ratio zur Stabilität durch (erhoffte) neue Mehrheiten zu gelangen, liefe man Gefahr, bei vorhandener Regierungsstabilität in eine Situation der Instabilität zu geraten, eine Lage also, die das Grundgesetz gerade vermeiden will (so bereits Sondervotum Rinck,BVerfGE 62, 70 <74> ). Schließlich sind anstehende Grundentscheidungen auch bislang vom Parlament selbst getroffen worden, auch in der Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung, die etwa den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr trotz kontroverser Debatte im parlamentarischen Raum bewältigt hat, ohne dass die (Neu-)Bestätigung durch das Wahlvolk eingefordert worden wäre.

Bei Lichte betrachtet lässt sich die Auseinandersetzung, ob die vom Bundeskanzler gestellte Vertrauensfrage den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG entspricht, letztendlich auf die Grundfrage zurückführen: Darf ein Bundeskanzler, der über eine stabile Mehrheit im Bundestag verfügt, eine "unechte" Vertrauensfrage dann mit dem Ziel stellen, Neuwahlen herbeizuführen, wenn er zu der Auffassung gelangt, dass seine Politik nicht mehr von der Mehrheit der Bevölkerung im Land getragen wird? Denn tatsächlich gründet das Dilemma des Kanzlers nicht in einer fehlenden parlamentarischen Mehrheit, sondern in einer Serie von Wahlniederlagen bei Landtagswahlen und einer Europawahl, die ihre Ursache nach allgemeiner Einschätzung darin finden, dass die Regierungspolitik bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung auf Ablehnung stößt. Kurz gesagt verfügt der Bundeskanzler also über eine Mehrheit im Bundestag, er befürchtet jedoch, nicht mehr die Mehrheit der Menschen im Land hinter sich zu haben.

Dass es dem Bundeskanzler mit seinem Vorgehen gerade um eine neue Legitimation durch das Volk ging und nicht um die Bereinigung einer Krisenlage im Parlament, hat er im Übrigen selbst nie verheimlicht. Bereits in seiner Fernsehansprache am Abend des 22. Mai 2005 hat er ausdrücklich klargestellt, dass durch die Wahlniederlagen die politische Grundlage für die Fortsetzung seiner Regierungsarbeit in Frage gestellt sei. Er halte für die Fortführung der Reformen deshalb eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für erforderlich. Von Schwierigkeiten im Parlament oder gar einer Handlungsunfähigkeit ist hier nicht die Rede. Demgemäß wird die Neuwahl auch im "Wahlmanifest" der SPD vom 4. Juli 2005 damit begründet, die notwendige Richtungsentscheidung müsse jetzt und nicht erst in einem Jahr getroffen werden.

Die Frage, ob in dieser Ausgangslage der Weg des Art. 68 GG beschritten werden darf, muss mit einem klaren Nein beantwortet werden. Es obliegt der Entscheidung des Bundeskanzlers, ob er in dieser Situation an der von ihm als richtig empfundenen Politik festhalten und sich damit dem Risiko eines weiteren Popularitätsverlusts aussetzen will. Sieht er sich hierzu nicht in der Lage, so steht es ihm frei, die Leitlinien seiner Politik zu ändern oder vom Amt zurückzutreten. Die Auflösung des Bundestags dagegen kann so nicht gerechtfertigt werden.


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BundesVerfassungsGerichtUndNeuwahl/DieEntscheidungImDetail/AbweichendeMeinungJentsch (zuletzt geändert am 2008-01-20 19:58:33 durch anonym)