Mit Durchgriffshaftung ist der Fall gemeint, dass jemand persönlich und unbeschränkt haftet, obwohl die betreffende Gesellschaft eigentlich mit einer Haftungsbeschränkung ausgestattet ist.
Beispiel: Der GmbH-Gesellschafter haftet gem. § 13 II GmbHG normalerweise nicht selbst für die Verbindlichkeiten der GmbH, es haftet nur die GmbH selbst mit ihrem eigenen Vermögen. Im Fall der Durchgriffshaftung haftet der Gesellschafter ausnahmsweise doch.
Einen Durchgriff gibt es keinesfalls nur hinsichtlich der Haftung, ein weiteres gängiges Durchgriffsproblem ist der ZurechnungsDurchgriff. Immer wenn es um das Durchbrechen der Trennungslinie zwischen Gesellschaft und Gesellschafter geht (piercing the corporate veil), kann man von einem Durchgriff sprechen. So etwa in den Fällen, wo eine GmbH einem WettbewerbsVerbot unterliegt, deren Gesellschafter dann eine zweite GmbH gründen, die genau das tut, was der ersten GmbH verboten ist.
Interessant wäre auch eine Prüfung der Durchgriffshaftung bei den neuerdings so beliebten "Limited" nach englischem Recht, die aber in Deutschland wirtschaftlich tätig sind. Die Anbieter dieser Gesellschaftsform (Gründung in 24 Stunden) werben nämlich auch mit dem völligen Ausschluss der Gesellschafter-Haftung.
Rechtsgrundlage
Die Durchgriffshaftung ist gesetzlich nicht geregelt, sie wurde in Rechtsprechung und Literatur entwickelt. Auf welcher Grundlage sie steht, ist umstritten.
Missbrauchslehre: Die juristische Person kann zu Zwecken eingesetzt werden, die als Missbrauch zu werten sind. In diesem Fall ist es dem Gesellschafter nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) verwehrt, sich auf die Haftungsbeschränkung zu berufen.
Normanwendung: § 13 II GmbHG ist auszulegen, um dann in jedem Einzelfall festzustellen, ob die Behandlung der Gesellschaft als selbständige juristische Person angebracht erscheint. Teilweise ist auch von einer teleologischen Reduktion die Rede.
Vorsätzliche Sittenwidrige Schädigung: Vor allem der BundesGerichtsHof tendiert dazu, möglichst viel über § 826 BGB zu erfassen. So wird auch die Durchgriffshaftung soweit möglich darauf gestützt, es handele sich um eine Schädigung der Gläubiger.
Fallgruppen
Einig ist man sich, dass die Durchgriffshaftung die Ausnahme sein muss. Im Laufe der Zeit wurden Fallgruppen herausgebildet, in denen der Haftungsdurchgriff angebracht sein soll.
Vermögensvermischung: Die Buchführung ist so unordentlich, dass nicht überprüfbar ist, ob die Vorschriften zur Sicherung des StammKapitals eingehalten wurden. Gebräuchlich ist hier der Begriff Waschkorbablage, eine Anspielung auf völlig chaotische Belegaufbewahrung.
Materielle Unterkapitalisierung: In der Literatur wird hartnäckig vertreten, auf die Haftungsbeschränkung könne sich nicht berufen, wer die Gesellschaft mit einem völlig unzureichenden StammKapital ausstatte. Im Ergebnis läuft das darauf hinaus, dass die Haftungsbeschränkung nicht mit den von § 5 I GmbHG vorgeschriebenen 25.000 Euro erkauft wird, sondern dies nur eine Untergrenze ist. Um die Haftungsbeschränkung zu rechtfertigen soll ein angemessenes StammKapital aufgebracht werden, das eine seriöse Finanzierung sicherstellt. Der BundesGerichtsHof hat sich dem bisher nicht angeschlossen, und das ist auch gut so. Bejaht wurde dies aber für Fälle, in denen die Unterkapitalisierung bewusst zur Gläubigerschädigung eingesetzt wurde - aber das bekommt man eigentlich ohne weiteres über § 826 BGB in den Griff.
Existenzvernichtender Eingriff: Die Rechtsprechung hat die Haftung im qualifiziert faktischen Konzern mittlerweile aufgegeben und durch eine Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs ersetzt. Das Urteil Bremer Vulkan deutete darauf hin, der BundesGerichtsHof werde diese Haftung nunmehr auf eine Verletzung der TreuePflicht stützen, was letztlich ein SchadensErsatzanspruch im Innenverhältnis wäre. Vertreten wird auch, dies die Existenzvernichtung sei ein Fall der vorsätzlichen sittenwidrigen Gläubigerschädigung gem. § 826 BGB.
Seit der Entscheidung KBV ist die Linie des BGH klar: Die Existenzvernichtung ist eine Durchgriffshaftung wegen objektiven Missbrauchs der Rechtsform, die Haftung gründet also im tiefsten Kern des Prinzips einer jeden Haftungsbeschränkung. Diese wird von der Rechtsordnung unter gewissen Voraussetzungen gewährt, an die man sich zu halten hat. Missachtet man diese Regeln, verliert man das Privileg der beschränkten Haftung, haftet also wieder persönlich und unbeschränkt.
- Noch nicht herausgebildet haben sich Fallgruppen, in denen eine Existenzvernichtung vorliegt. Hier kommt vor allem in Betracht, die Haftung wegen materieller Untarkapitalisierung in weiterm Umfang als bisher zuzulassen.
Klausuraufbau: Man kann die Existenzvernichtung als weiteren Fall der Durchgriffshaftung ansehen. Oder aber umgekehrt, die bisherigen Fallgruppen als Unterfälle der Existenzvernichtung. Das dürfte egal sein, solange der Aufbau überzeugt und sonst alles richtig ist.
Dazu kann man sich an der Uni Mainz eine Übersicht und ein Prüfungsschema (beides PDF) herunterladen. Dort wird aufgezeigt, wie man den Existenzgefährdenden Eingriff als Durchgriff aufbauen und lösen kann. Die Darstellung ist allerdings sehr auf die aktuelle BGH-Rechtsprechung ausgerichtet, auf alternative Lösungsansätze wird nicht eingegangen.
Ausgewähltes zur Existenzvernichtung:
- Keßler, GmbHR 2002, 945 ff (Heft 19) - bringt das BGH-Konzept kurz auf den Punkt.
- Lutter/Banerjea ZGR 2003, 402 ff (Heft 3) - etwas ausführlicher, fast 40 Seiten.
Rechtslage in Österreich
Das österreichische GmbH-Gesetz ist weitgehend ähnlich dem deutschen GmbHG, insbesondere in den Grundkonzeptionen. Daher gelten ähnliche Grundsätze: Der Gesellschafter haftet im Prinzip nicht für Gesellschaftsschulden; die Ausnahmen vom Grundsatz werden in Österreich ähnlich der deutschen Lehre gesehen. Gerichtsentscheidungen orientieren sich an österreichischen, aber sehr oft auch an deutschen Lehrmeinungen und deutschen Judikaten. Beispielsweise führte der österreichische OGH (Oberster Gerichtshof; entspricht dem BGH Bundesgerichtshof in Deutschland) jüngst aus: Auszug aus OGH 29.4.2004, 6 Ob 313/03b (kann im Volltext abgerufen werden über http://www.ris.bka.gv.at/jus: "Die Haftung von Gesellschaftern wurde trotz des Trennungsprinzips gemäß § 61 Abs 2 GmbHG in Ausnahmefällen unter bestimmten Voraussetzungen von Lehre und Rechtsprechung bejaht. Die dogmatischen Begründungen der sogenannten Durchgriffshaftung sind allerdings vielfältig und widersprüchlich."
siehe auch GesellschaftsRecht